Über bürgerliche Krisentheorie und Konjunkturforschung.
Die bürgerliche Ökonomie hat keine zufriedenstellende Erklärung für die Wirtschaftskrisen. Die Frage zu beantworten, warum es Krisen im Kapitalismus gibt und warum diese mit zwingender Notwendigkeit regelmäßig wiederkehren, hieße zum Wesen der kapitalistischen Produktionsweise vorzudringen.
Der Marxist Eugen Varga (1879-1964) hat nicht nur in einzigartiger Weise die Krisen des Kapitalismus erklärt und analysiert, er hat auch immer wieder auf den Bankrott der bürgerlichen Krisentheorie hingewiesen, wiewohl er die Leistungen der empirischen Konjunkturforschung zu schätze wusste, die jedoch aus Mangel einer theoretischen Fundierung stark entwertet würden. Wie kommt es, dass die bürgerliche Wissenschaft auf dem Gebiet der Krisentheorie auf ganzer Linie versagt hat, obgleich sie doch alles Erdenkliche unternommen hat um die Krisen zu begreifen, damit sie Mittel und Wege finde diesen vorzubeugen? Die Antwort liegt für Varga darin begründet, dass die bürgerliche Ökonomie zur Apologetik des Kapitalismus herabgesunken ist. Und zwar in dem Maße, wie der Klassenkampf des Proletariats die Herrschaft der Bourgeoisie in Zweifel stellte. Die bürgerliche Ökonomie „fürchtet jeden Hinweis auf die Kräfte, die dem Kapitalismus auf der Grundlage seiner eigenen inneren Bewegungsgesetze einen revolutionären Untergang bereiten.“[1] Damit ist der Widerspruch benannt, der die Geschichte der bürgerlichen Krisentheorie durchzieht.
Apologetische Phrasen
Die herausragenden Vertreter der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie, Smith und Ricardo, haben keine Krisentheorie ausgearbeitet, was damit zu tun hat, dass diese die periodischen Krisen noch nicht kannten. Ricardo erlebte zwar die Krise von 1815, konnte sich diese aber noch aus zufälligen Ereignissen erklären. Er übernimmt die Auffassung Says wonach mit der Produktion einer Ware immer auch die entsprechend Kaufkraft produziert werde. Demnach seien allgemeine Überproduktionskrisen prinzipiell unmöglich. Eugen Varga verweist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied von Kaufkraft und Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft: „Die Kaufkraft der kapitalistischen Gesellschaft entspricht tatsächlich c + v + m, sie ist gleich der Summe des Wertes der in einem Jahr hergestellten Waren. Doch nutzt diese allgemeine Wahrheit wenig, um das Marktproblem zu lösen. Entscheidend ist nicht die Kaufkraft der Gesellschaft, sondern deren Konsumtionsfähigkeit. Unter der Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft versteht Marx jenen Teil der Kaufkraft, den Arbeiter und Kapitalisten für Konsumtionsmittel, für Waren der Abteilung II aufwenden können. Das bestimmt letztlich die Aufnahmefähigkeit des Marktes für alle Arten von Waren, denn die Produktionsmittel werden von den Kapitalisten nur deshalb erworben, um damit Konsumtionsmittel herzustellen.“[2] Der enorme Einfluss des Sayschen Dogmas erklärt, weshalb eine breitere Erforschung der Krisenursachen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte.
Krisentheorien
Abgesehen von jenen Krisentheorien die eigentlich überhaupt nicht zu den ökonomischen Theorien zu zählen sind, weil sie entweder kosmische Ursachen anführen (Jevons, Moore) oder psychologische Erklärungen heranziehen (Pigou), so nehmen die meisten bürgerliche Krisentheorien die Disproportionalität in der Entwicklung zentraler volkswirtschaftlicher Größen zum Ausgangspunkt. Während etwa Aftalion die Überproduktion in einem übermäßigen Umfang der Produktion von Investitionsgütern begründet sieht, führt Spiethoff diese auf ein Überschießen der Produktion von Grundstoffen zurück. Beide erblicken also in der allzu starken Ausdehnung eines verbrauchsfernen Produktionsbereichs den Grund für die Krisen. Demgegenüber betont Lederer, dass allein das Auseinanderklaffen zwischen Produktionsentwicklung und Einkommensentwicklung die Krisen erklären kann.
Varga bemerkt über die bürgerlichen Krisentheorien im Allgemeinen: „Zwar gibt es unzählige Krisentheorien, und ihre Zahl vermehrt sich von Jahr zu Jahr. Alle enthalten – mit einigen Ausnahmen – Elemente, die einem Teil der Wirklichkeit entsprechen: sie umfassen nicht das ganze des Problemkreises, sondern greifen ein Teilgebiet heraus und versuchen damit das ganze Krisenproblem zu erklären. Alle bürgerlichen Krisentheorien – sowohl der Vorgänger als der Nachfolger von Marx – sind unrichtige Verallgemeinerungen einzelner Elemente der umfassenden Krisentheorie von Marx.“[3]
Empirische Konjunkturforschung
In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts kam die empirische Konjunkturforschung, vor allem in den USA und in Deutschland, auf. Diese entwickelte Methoden um Vorraussagen über die ökonomische Entwicklung treffen zu können, was ganz im praktisch-wirtschaftlichen Interesse der Kapitalisten lag, die sich auf die Krisen einzustellen hatten. Die empirische Konjunkturforschung betrieb zunächst vorwiegend Symptomatik. Das heißt, dass daraus, dass in der Vergangenheit ein gewisses Symptom ein bestimmtes wirtschaftliches Ereignis zur Folge hatte, geschlossen wird, dass dies auch in der Zukunft der Fall sein wird. Die Unzulänglichkeit dieser Methode sollte sich bereits im Herbst 1929 herausstellen. Noch Ende August desselben Jahres behauptete das Berliner Institut für Konjunkturforschung, „dass fast alle Länder sich fern von Krisis und Depression in einer konjunkturell günstigen Lage, in einem Aufschwung oder einer Hochkonjunktur befinden“[4].
Das Versagen der bürgerlichen Wissenschaft auf dem Gebiet der Konjunkturforschung war also offensichtlich. Varga hat anlässlich der Weltwirtschaftskrise von 1929 festgestellt, dass, wollte die bürgerliche Ökonomie zuverlässige Vorhersagen treffen, sie sich der marxistischen Methode bedienen müsste. Man könne aber nicht für die Konjunkturvoraussage die marxistische Methode anwenden, sonst aber die Vulgärökonomie als Grundlage beibehalten.[5] Die bürgerliche Ökonomie war also gezwungen, die Konjunkturforschung auf Basis der Vulgärökonomie weiterzuentwickeln und mit der Unsicherheit der so erhaltenen Ergebnisse zu leben. Jedoch erwuchs aus der Konjunkturbeobachtung das Konzept der aktiven Konjunkturpolitik, das schließlich auch mit der Theorie von John M. Keynes verbunden wurde. Mit Keynes vollzieht sich die Auflösung der Konjunkturtheorie überhaupt, hinein in eine allgemeine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung.[6]
Zur Popularität des Keynesianismus
Varga stellt 1964 die Frage, wie sich die beherrschende Stellung des Keynesianismus erkläre, sodass sowohl regierende Politiker, die die Interessen des Monopolkapitals vertreten, als auch Universitätsprofessoren in kapitalistischen Ländern, wie auch reformistische Arbeiterführer in gleichem Maße zu Keynesianern wurden. Die Antwort: Als Keynes sein Hauptwerk in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre verfasste, war die von Marxisten konstatierte allgemeine Krise des Kapitalismus schon nicht mehr zu leugnen. Die Lehre vom harmonischen Wesen des Kapitalismus, wonach die inneren Kräfte dieser Gesellschaftsordnung automatisch alle entstehenden Schwierigkeiten überwinden, erlitt Schiffbruch. Das machte Keynes zur größten Autorität in der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft und in der Wirtschaftspolitik der kapitalistischen Welt:
„Keynes stellte sich folgende Aufgaben:
a) Er wollte beweisen, dass die Gebrechen des Kapitalismus, insbesondere die chronische Massenarbeitslosigkeit, nicht aus der kapitalistischen Ordnung an sich, sondern aus allgemeinen psychologischen Gesetzen resultieren, so dass dafür nicht die herrschende Großbourgeoisie, das Monopolkapital, sondern ewige, gesellschaftsunabhängige Faktoren verantwortlich zu machen seien.
b) Er wollte Maßnahmen empfehlen, die im Grunde den Interessen der Monopolbourgeoisie dienten, formal jedoch für die Reformisten akzeptabel wären.“[7]
Und an anderer Stelle: „Die Allianz von Reformismus und Keynesianismus ist auf dem Umstand begründet, dass die Reformisten und Revisionisten den Marxismus für „veraltet“ erklären, andererseits jedoch außerstande sind, eine eigene Theorie des gegenwärtigen Monopolkapitalismus zu entwickeln. Sie bedürfen einer soliden bürgerlichen Theorie, die zwar (der Besänftigung der unzufriedenen Arbeiter halber) den Kapitalismus kritisiert und für reformbedürftig erklärt, in ihrer Kritik jedoch sehr gemäßigt bleibt und den reformistischen Funktionären die Möglichkeit zur Kollaboration mit der Bourgeoisie lässt. Keynes’ Lehre genügt allen diesen Ansprüchen der Reformisten.“[8]
Scheitern des Keynesianismus
Der Keynesianismus erwies sich jedoch als unfähig, die Probleme des Kapitalismus auch nur in Ansätzen zu lösen. Mit dem Ausbrechen der weltweiten kapitalistischen Überproduktionskrise Mitte der 1970er Jahre geriet der Keynesianismus selbst in eine Krise. Es wurde nun immer deutlicher, dass die keynesianische Politik die über die zyklische Bewegung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses hinausreichenden langfristig wirkenden Faktoren kaum oder überhaupt nicht erreicht und sie so weitestgehend unwirksam bleiben musste.[9] Ein Umstand, den Varga allerdings nicht mehr kommentieren konnte.
Der Niedergang des Kapitalismus
Varga folgt dem Marxschen Gedanken, dass der eigentliche Grund für die Krisen in dem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung zu suchen ist. Die Krisen sind für Varga nicht bloß Störungen der kapitalistischen Reproduktion, die bewirken, dass sich die Proportionen der Wirtschaft wieder herstellen, sodass der Konjunkturzyklus von neuem munter beginnen kann. Varga teilt mit Marx die Ansicht, dass die Krisen „eklatierende Widersprüche“ sind, welche die kapitalistische Produktionsweise „selbst dem groben Blick als bloß historische Übergangsform kennzeichnen.“[10] War der Kapitalismus zu Marx Zeiten allerdings noch im Aufstieg begriffen, so fasst Varga den Kapitalismus seiner Tage als Kapitalismus in der Periode seines Niedergangs. Dazu veranlassen ihn unter anderem folgende Feststellungen: Selbst in seinen Hochkonjunkturphasen vermag es der Kapitalismus nicht mehr die chronische Arbeitslosenarmee abzubauen. Es wächst das Unvermögen die sich entwickelnden Produktivkräfte auszulasten.
„Aber die Aufeinanderfolge der Zyklen und Krisen“, schreibt Varga, „stellt keine mechanische Wiederholung qualitativ gleicher Erscheinungen dar; jede Krise ist eine weitere Stufe beim Niedergang des Kapitalismus, und zwar nicht nur in ökonomischer sondern auch in sozialer Hinsicht. Jede Krise vernichtet die Existenz vieler einzelner Kapitalisten; sie lässt die Zahl derjenigen, die an der Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung interessiert sind, immer mehr schrumpfen und verschärft den Widerspruch zwischen Proletariat und Bourgeoisie, wobei der Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der kapitalistischen Aneignung immer schärfere Formen annimmt.“[11]
[1] Eugen Varga, Ausgewählte Schriften 1918 – 1964, Zweiter Band, Köln 1982, S. 6
[2] Ebd., S. 400 f.
[3] Ebd., S. 59
[4] Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Berlin, 1929, H. 2, Teil B, S. 41, zitiert nach: Herbert Meißner, Geschichte der politischen Ökonomie, Berlin 1985, S. 482 f.
[5] Eugen Varga, Ausgewählte Schriften 1918 – 1964, Erster Band, Köln 1982, S. 326
[6] Vgl. Werner Hofmann, Theorie der Wirtschaftsentwicklung, Berlin 1979, S. 94
[7] Eugen Varga, Ausgewählte Schriften 1918 – 1964, Dritter Band, Köln 1982, S. 327 f.
[8] Ebd., S. 333
[9] Vgl. Herbert Meißner, Geschichte der politischen Ökonomie, Berlin 1985, S. 527 f.
[10] Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil, MEW 26.3, Berlin 1982, S. 80
[11] Eugen Varga, Ausgewählte Schriften 1918 – 1964, Zweiter Band, Köln 1982, S. 6 f.
Montag, 3. November 2008
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen